Was verbindet Liturgie, Konzertbühne und Protestplakate?

In meinem Beitrag zu Fronleichnam ging es um Prozessionen und gelebte Zeichen des Glaubens.

Hier setze ich das Thema fort und öffne den Blick weiter – auf Rituale, die uns auch außerhalb der Kirche begegnen – zwischen Kirchenraum, Konzertbühne und Straßen-Demo.

Dieser Beitrag ist auf Anregung von Heiko Metz
und seiner Blogparade #wasmeineseelenährt entstanden.

Kindliches Staunen zwischen Orgelklang und Osterfeuer

Liturgie als frühes Ritualerlebnis
Rituale waren für mich als Kind vor allem mit der katholischen Kirche verbunden.
Es war schon ganz schön beeindruckend, was da in der Liturgie aufgefahren wurde und welche Rituale darin steckten, die ich als Kind natürlich nicht verstehen konnte.

Je feierlicher es wurde, umso tiefer war ich beeindruckt. Feierlich verbinden wir mit wertvoll. Wenn wir etwas feiern, dann ist es uns etwas wert; und wenn ich als Kind dabei sein darf beim Feiern, dann bin ich auch wertvoll.

Natürlich war ich bei aller Freude auch neugierig, habe Fragen an meine Mutter gestellt und wenig Antworten bekommen, denn sie hat sich nicht damit beschäftigt, was dahintersteht, sondern einfach damit, dass man das so macht.
Weil man das immer so macht, weil ihre Eltern das so gemacht haben, weil der Pfarrer sagt, dass man das so macht und so weiter und so fort.

Ich war fasziniert von Orgelklängen, vom Osterfeuer, das dann von Kerzen weitergetragen wurde bis die Kirche hell wurde, vom Duft des Weihrauchs. Und auch von dem feierlichen Schweigen, wenn plötzlich alle still wurden. Oder von der Taufe, wenn dem Baby einfach Wasser über den Kopf gegossen wurde. Als ich noch Kind war, habe ich das alles mit staunenden Augen zur Kenntnis genommen.
 
Später im Theologie-Studium habe ich gelernt, was all die Zeichen, Farben, Abläufe bedeuten. Liturgie wurde eines meiner Lieblingsfächer. Nicht wegen der Regeln – sondern wegen der Geschichten dahinter.
Endlich bekam ich die Erklärungen zu all dem „Zauber“, der mich früher so beeindruckt hatte.
Kirchturm St. Mang, Kempten

Liturgie trifft Show

Heute fällt mir oft auf, wie viele Rituale wir auch außerhalb der Kirche leben – bewusst oder unbewusst.
Schau dir große Popkonzerte an: Dramatischer Einzug, Lichteffekte, gemeinsames Singen, jubelnde Menschen – das ist kein Gottesdienst, aber vieles funktioniert ganz ähnlich.
Die Kanzel wird zur Bühne, der Chor zur Band, der Bühnennebel ersetzt den Weihrauch. Und natürlich die „Kleidung“: Messgewänder am Altar, Glitzerkostüme auf der Bühne.

Selbst das Timing ist durchchoreografiert. Und: Es wirkt. Es berührt.
 
Ich habe selbst in Chören gesungen, in einer Band gespielt, einen Kinderchor dirigiert. Und gemerkt: Musik ist ein verbindendes Ritual – ob geistlich oder weltlich. Besonders schön fand ich es, wenn Kinder einfach lossingen durften, ohne gleich alles „richtig“ machen zu müssen. Freude zuerst, Regeln später.

Oder nimm das gemeinsame Singen von Fußballhymnen – definitiv ein Ritual!

Von der Monstranz zur Demo

wenn Überzeugungen sichtbar werden
Rituale gibt es nicht nur im Religiösen. Auch gesellschaftliche Anlässe folgen einer rituellen Choreografie. Denk an den 1. Mai, an Friedensdemos, an stille Mahnwachen oder bunte Paraden.

Auch hier: Menschen versammeln sich, zeigen gemeinsam, was ihnen wichtig ist – oft mit Symbolen, Gesängen, Bannern.

Wenn wir an Fronleichnam die Monstranz durch die Straßen getragen haben, ging es – ähnlich wie bei einer Demo – um Sichtbarkeit. Um das öffentliche Bekenntnis: „Das hier ist uns heilig. Dafür stehen wir ein.“

Farben, Formen, Bedeutungen oder Brimborium

Im katholischen Kirchenjahr gibt es Farben für jede Zeit: Weiß für Hoch-Feste, Violett für Besinnung, Rot für Pfingsten oder Blutzeugen.
Auch das hat symbolische Kraft. So wie ein schwarzes Kleid bei einer Trauerfeier mehr ausdrückt als tausend Worte.

Und dann ist da noch der Weihrauch – früher ein edles Gut, heute für manche nur noch eine Geruchsbelästigung.
Aber ursprünglich war es ein Zeichen der Wertschätzung: Für Gott ist uns nur das Beste gut genug.

So wie der goldene Kelch, der mit Edelsteinen verzierte Tabernakel oder die prächtigen bestickten Gewänder.

Natürlich kann man das alles als überholtes Brimborium abtun.
Als überinszeniertes Schauspiel, das mit dem Alltag nichts mehr zu tun hat.
Wenn keine Bedeutung erkennbar ist, und man keinen inneren Bezug (mehr) zu Glauben oder Kirche hat.
Ich verstehe diese Sichtweise sehr gut.

Was Rituale uns heute noch schenken

Aber da steckt mehr drin!
Rituale geben Struktur, Halt und Verbindung.
Sie wandeln sich – und verdeutlichen doch immer wieder dasselbe.

Egal, ob früher das Hochamt an Feiertagen, mit besonders vielen Lesungen, mit Weihrauch, mit Messgewändern, die speziell für diesen Tag reserviert sind – oder heute Taizé Lieder bei Kirchentags-Gottesdiensten im Stadion.

Sie sagen: „Das ist wichtig“ und schaffen Gemeinschaft – wie bei Fronleichnamsprozessionen, Demos für den Frieden oder dem Schweigemarsch nach einem Anschlag.
Auch dort werden Symbole getragen, Lieder gesungen, Plakate hochgehalten – sichtbar, hörbar, spürbar.
All das verdeutlicht: „Du bist nicht allein.“

Gerade in herausfordernden Lebensphasen geben Rituale uns Halt – die Alten und die Neuen.
Sie bieten uns einen Rahmen, der trägt – gerade, wenn Worte fehlen.
Rituale wollen nicht unbedingt verstanden, sondern vielmehr erlebt werden.

Gemeinsam ist allen:
Sie schaffen Verbindung – zwischen Menschen,
zwischen Himmel und Erde,
zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
mit Blättern geschmücktes Metallkreuz beim Dia de la Cruz in Teneriffa
(Quelle für die Fotos: Bild mit geschmücktem Kreuz: Stephanie Braun;
Bild vom Kirchturm St. Mang: Margaretha Schedler; Beitrags-Bild: selbst)

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2 Kommentare zu „Zwischen Weihrauch und Weltbühne – Warum Rituale uns tragen“

  1. Liebe Lydia,
    danke für diesen vielschichtigen, tief atmenden Beitrag!
    Du hast nicht nur die äußeren Rituale sichtbar gemacht, sondern auch die innere Bewegung, die sie auslösen können – zwischen Zweifel und Zuversicht, zwischen Fremdheit und Heimatgefühl.
    Besonders berührt hat mich der Gedanke, dass Rituale nicht nur individuell die Seele nähren, sondern in der gemeinsamen Praxis Verbundenheit stiften können – gerade dann, wenn sie nicht glatt, sondern ehrlich erlebt werden.
    Ich freue mich sehr, dass du diesen Beitrag zur Blogparade beigesteuert hast – er erweitert den Horizont!
    Herzlich
    Heiko

    1. Lieber Heiko,
      Deine Blogparade war reizvoll für mich im doppelten Sinne. Ein Reiz, meine widersprüchlichen Gedanken dazu mal zu sortieren und in einen Rahmen zu setzen, der das Anschauen auch für mich selbst wieder leichter gemacht hat.
      Und ein Reiz, das, was hinter veralteten Ritualen stecken könnte, ins Heute zu holen.
      Danke für diese Gelegenheit!

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