Frühjahrs-Blues am Fliederstrauch

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ich stehe im Garten, genieße das Kribbeln der Sonnenstrahlen auf meiner Nase und blinzle in den Fliederstrauch, der direkt hier neben mir mit dicken, prallen Knospen irgendeine Story vom Frühling erzählt.
Schon verrückt.
Vor gerade mal viereinhalb Monaten haben wir ihm rigoros jede Menge Äste und Zweige abgeschnitten, ihm einen radikalen Kurzhaarschnitt verpasst – und nun lockt er schon bald wieder mit Duftwölkchen.

Natur ist merkwürdig.
Kirsch-, Pflaumen- und Apfelbaum verhalten sich ähnlich wie der Flieder.
Nun gut – ihr Duft ist nicht annähernd so betörend und aufmerksamkeitsheischend – aber die Präsenz eines blühenden Kirschbaums ist gigantisch.

Was ist das für ein Spiel, das ich hier jedes Jahr mit meinen Obstbäumen treibe?

Ja – ich weiß, dass der Flieder kein Obstbaum ist. Er teilte aber deren schmerzhaftes Schicksal in der Begegnung mit der Schere – genau wie seine Nachbarin, die Pfingstrose – aber die schlummert noch selig für mindestens vier Wochen.

Also – zurück zum Obst.

Was erlaube ich mir eigentlich – nein, WER erlaubt mir eigentlich, im Herbst schonungslos die Früchte zu ernten, zu verschenken, zu essen, einzufrieren, Kuchen und Marmelade herzustellen und zu stöhnen, wieviel gerade zu tun ist –
um dann wenig später Kahlschlag zu betreiben, bergeweise Astschnitt zu schreddern, diesen dann als Mulch für die Hecken und die darin kuschelnden Igel zu verwenden –
und im Frühjahr völlig verzaubert zuzusehen wie die Bäume mir alles verziehen haben –
und ihren Jahreskreislauf von vorne beginnen.

Jahr für Jahr.
Lange – sehr lange – manche von ihnen für Generationen.
Der Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland mit seinem Birnbaum hat wahrscheinlich auch schon als Kind drin gesessen.

Einen fleißigen Birnbaum habe ich auch, in dem Garten, den ich “mein” nenne – und dem ich doch so wenig gebe – ich nehme immer nur weg. Schenken geschieht hier durch Wolken und Wind und Sonne – und Bienen, Hummeln, Schmetterlinge …

Wie bekomme ich jetzt bloß wieder die Kurve auf uns Menschen?

Ach ja – ich stehe ja neben dem Flieder – und denke nach – nachdem ich angemessen gestaunt habe.

Ich denke übers eigene Leben nach – über meinen Kreislauf – besser gesagt über den Kreislauf der menschlichen Natur.
(Mein eigener ist ja eher eine Frage der Anstrengung und der Blutdrucktabletten – das gehört heute nicht hierhin).
Also – der Kreislauf des Menschseins. Hat ja auch einen Frühling und einen Herbst.

Ich glaube, bei mir ist Herbst – allerdings nicht nur von Oktober bis Dezember, sondern ganzjährig. Na gut, vielleicht noch ein bisschen Spätsommer – kommt darauf an, wie man rechnet. Aber ich will hier nicht rechnen – ich will übers Fühlen schreiben.
Ich fühle mich wie im späten Spätsommer und nahe am Herbst.
Eine wundervolle Jahreszeit – bunt, Erntezeit, einsammeln des Gewachsenen, Verschenken der Früchte, Überfluss, Nahrung, Aufheben für den Winter.

Merkwürdig ist es schon – ich stehe vor den knospenden Bäumen und denke an Herbst – an Lebensherbst.

Wenn die Bäume denken könnten (vielleicht können sie ja?)
und ein Gedicht schreiben könnten
(machen sie ja vielleicht – Ist es etwa das sanfte Rauschen, das wir hören?),
was würden sie wohl schreiben?

Vielleicht dies hier?

Vergänglich ist die Knospe im Baum
Denn bald schon wird sie erblühen,
und mit der Biene zartem Flaum
als Blütenstaub entfliehen.

Sie wird zum Nektar, zur Nahrung, zur Frucht
Der Kreislauf des Lebens beginnt

Und endet als Apfel beim Kind.

Ok – ich gebe es zu – das ist von mir – aber ich lege es dem Apfelbaum in den Mund – so wie er mir den Apfel – und vielleicht gefällt es ihm ja – ich werde es ihm morgen mal vorlesen …

Ich trenne mich nachdenklich vom Flieder und gehe ins Haus.
Meinen Frühjahrs-Blues nehme ich mit.
So ganz sind wir beide noch nicht fertig miteinander.
Bis zum Lebens-Herbst habe ich meine Gedanken vorhin ja schweifen lassen –
bis zur Ernte – zu den schönen Gedanken.

Und dann?

Dann fallen die Blätter, dann werden die Äste geschnitten –
was heißt das denn übersetzt für mich als Mensch?

Ja – da ist er – der Blues.

Welche Äste lasse ich abschneiden,
welche Blätter werfe ich ab, damit sie als Mulch die nächste Generation wärmen?

Was bleibt, wenn ich gehe?

– Schätze und Müll
– Kisten voll Fotos und Tagebücher
– Spitzen-umhäkelte Taschentücher
– Lieblings-Seifen und Liederbücher
– Familienschmuck und Kinderschätze
– Löchrige Socken und Einkaufsnetze
– Altpapier, Altglas und Altkleidersäcke
– Lieblingsbücher und Trockengestecke
– meine Gedanken auf Festplatte, meine Bilder an der Wand
– meine Gitarre im Kasten, kaum ein Cent auf der Bank

Was bleibt, wenn wir gehen?
Was hinterlassen wir wirklich?

Wird unsere Asche im Friedwald als Dünger dienen,
im Meer sich verteilen und zu Boden sinken?

Sind unsere Gedanken wertvoll genug zum Weiter-Tradieren?
Wird dieser Text nochmal irgendwen beeindrucken?

Was wollen wir hinterlassen? Und was lieber nicht?
Wie bereiten wir das „danach“ vor?
Wieviel Verantwortung für das „danach“ haben wir wirklich?
 
Warum denke ich eigentlich im Frühjahr über Vergänglichkeit nach?
gehört das nicht eher in den Herbst, die graue Jahreszeit, den Winter?

Mir scheint, das Nachdenken über die eigene Endlichkeit tritt mit fortschreitendem Lebensalter jahreszeitenunabhängig gehäuft auf.

Sozusagen situationsbedingt.
Beispiele?
bis zu welchem Alter ist es eigentlich “angemessen”, sich ein neues Geschirr zu kaufen?
neue Bettwäsche? neue Handtücher?
Ist das nicht nur zusätzliche Last für die Nachlass-Aufräumer?

Vielleicht bin ich inzwischen auch einfach alt genug, um an die Vergänglichkeit zu denken.

was brauche ich noch wirklich?
was schaffe ich noch neu an?
wem bürde ich sie auf als Nachlass,
die prall gefüllten Schränke und Räume,
die Marmeladengläser vergangener Sommer …

wieviel “muss” man ordnen bevor man geht?

oder doch lieber leben nach dem Motto “nach mir die Sintflut”?

Mir fällt wieder der viel zitierte Apfelbaum ein,
der auch noch am letzten Lebenstag gepflanzt wird.

Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen (Martin Luther zugeschrieben)

So schließt sich mein Denk-Kreis wieder zum Apfel, zum Baum, zur Natur.

Und da ruft mich die Amsel vor dem Fenster – der Flieder möchte mich sprechen – ich komme!


PS: der Flieder meint, ich soll mir nicht so viel Gedanken über den Herbst machen – jetzt sei Frühling.
Ich gehe dann mal weiter aufräumen – Altglas und Altpapier entsorgen und Klamotten ausmisten. Heute gibt es keine finalen Antworten. Es ist noch nicht an der Zeit.

PPS: dem Apfelbaum hat das Gedicht gut gefallen – er hat sanft mit den kahlen Zweigen Beifall gerauscht.
Fliederknospen vor blauem Himmel
Wenn Dir meine Gedanken ein Lächeln ins Gesicht zaubern
oder eine Inspiration daraus wächst,
dann gib mir doch einen virtuellen Cappuccino aus.
Bis wir uns mal live treffen – dann zahle ich den Kaffee!

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