Die Kehrseite der Unbekümmertheit

Jedes Ding hat zwei Seiten – sagt man …

lieber vorlesen lassen? Lesezeit ca. 8 Min.,

Achtsam und unbekümmert – im Doppelpack besonders gut?

Empfohlen wird sie überall: die Achtsamkeit –
– erstrebenswert für ein gesundes Mindset
– Grundlage zum Erreichen einer guten Life-Balance
– und Basis für einen gelassenen Umgang mit den alltäglichen Unwägbarkeiten und Herausforderungen.

Und falls es – wie früher beim Metzger oder beim Einkaufen auf dem Wochenmarkt – noch ein bisschen mehr sein darf – dann wird dazu geraten, noch ein Quäntchen Unbekümmertheit und Leichtigkeit obendrauf zu packen.

Soll auch in herausfordernden Situationen funktionieren – sagt man.

Schöne, heile, perfekte Welt

Meine Erfahrung ist:
ja – das stimmt.
Achtsamkeit macht uns aufmerksamer auf das, was in uns und um uns herum passiert, sensibilisiert uns für die eigenen Bedürfnisse – und die der Welt um uns herum.

Unbekümmertheit brauchen wir, um die Schwere der alltäglichen Herausforderungen sowie die Anstrengung beim Bewältigen ungeplanter Ereignisse abzufedern.

und
(weil ich das Wort „aber“ möglichst nicht mehr verwende) meine Erfahrung ist auch:

Hoppla – da steckt Gefahrenpotential drin!

Beispiele?

… Du gehst gerne wandern?
und gehst einfach mal so unbekümmert los – in Flipflops auf die Zugspitze – oder ohne Sonnenschutz auf einen baumlosen Pfad …

… Du fährst mit dem Auto in Urlaub?
Beim Blick auf die Tank- oder Akkuanzeige unbekümmert sein –
und dann im Stau liegenbleiben …

… Du hast eine Nussallergie?
Der Kuchen schmeckt richtig lecker … da sind bestimmt keine Nüsse drin …

… Du bist achtsam unterwegs und bewunderst die Pflanzen am Wegesrand, die manche unter Unkraut und andere unter Bienenfutter einordnen. Noch ganz versunken in die Wunder der Natur übersiehst Du beim Weitergehen den entgegenkommenden Radfahrer …

… Du bist ganz vernarrt in perfekt zubereitetes Bircher Müsli. Sorgfältig wählst Du am Hotel-Buffet das Obst dazu aus. Den passenden Joghurt – oder doch lieber den veganen Hafer-Drink? Vielleicht noch einen Teelöffel zerstoßene Kürbiskerne oder ein Tropfen Leinöl?
Die immer länger werdende Schlange hinter Dir am Buffet bemerkst Du nicht …

Der Preis für Unbekümmertheit und Achtsamkeit

– Dein Handeln hat Wirkung
– Nicht-Handeln auch
– Du bist immer Teil eines Systems
Wir alle sind Teil mehrerer Systeme.
Herkunfts- und eigene Familie, Partnerschaft, Freundeskreis, Arbeitsplatz, Kunden, Nachbarschaft, (Sport-)Verein, Social Media Plattform – die Liste lässt sich beliebig fortsetzen.
Letzten Endes sind wir alle ein Teil des Systems Erde. Ganz egal, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht.

(Ist Dir bewusst, dass der Sauerstoff, den Du ausatmest, von einem anderen Lebewesen wieder eingeatmet wird? Und dass Du potentiell vom Sauerstoff lebst, der von einem anderen Wesen ausgeatmet wird …)

Du kannst Dir Unbekümmertheit und Achtsamkeit nur „leisten“, weil Du Dich in einem Gesamt-Netz-Werk befindest und dort aufgefangen bist:

… die Aufmerksamkeit des Radfahrers kompensiert Deine (unaufmerksame) Achtsamkeit.
… die Geduld der anderen Gäste ist der „Preis“ für Dein besonders achtsam gewähltes Frühstück.
… die Bergrettung ist Deine Versicherung für den Sturz in Flipflops, der Hautarzt für Deine Sonnenbrand-Schäden und der ADAC für das Auto mit leerem Tank.
Und natürlich gilt das alles auch genauso für mich!

Leicht-Sinn? Vor-Sorge? Verantwortung?

Mir ist das schmerzlich bewusst geworden, als ich mit einer Wandergruppe unterwegs war und die großen Unterschiede der einzelnen Teilnehmenden hinsichtlich Unbekümmertheit beobachtete. Das Gewicht der Rucksäcke bei Tagesausflügen war der beste Indikator:
– Imbiss „für alle Fälle“ – oder nicht?
– etwas Warmes zum Überziehen?
– viel oder wenig Wasser?
– Sonnenschutz?
– Mückenmittel?
– Regencape?

Ich bewunderte die, die mit dem Mindset „Unbekümmertheit“ schon fröhlich hüpfend und leicht bepackt am Treffpunkt standen – während ich noch überlegte, was im Rucksack nicht fehlen durfte.
Ja – ich war nicht frei von Ärger, als dieselben „Leichtfüßigen“ unterwegs nach genau den Dingen fragten, die meinen Rucksack schwer machten – und natürlich gab ich dennoch etwas ab.
Kurz blitzte der Gedanke auf „immer ich“ – und „immer die“.

Bis mir das mit dem System einfiel – und ich mir selbst klarmachen konnte, dass unsere Systeme nur genau so funktionieren:
es braucht Beides, es braucht jeden Aspekt, es braucht die Fülle des Ganzen
– es braucht Geben – und Nehmen
– es braucht die mit dem Vorsorge-Blick – und die mit der Leichtigkeit
– es braucht die Verantwortungs-Träger – und die, die sich zurücklehnen in die Hängematte der anderen

Niemand muss immer dieselbe Rolle haben

Ich darf mich heute um Sonnenschutz kümmern und morgen unbekümmert ohne losziehen.
Ich kann heute nehmen und morgen geben.
Ich bin auf keine Vorsorge-Rolle abonniert.
Ich bin nicht automatisch in jeder Gruppe und an jedem Tag die, die dafür sorgt, dass alles läuft.
Niemand hat mich damit beauftragt – außer ich selbst. Und das offensichtlich ziemlich unbewusst. Und ungewollt.

Ganz ehrlich: es war ein bisschen schmerzhaft, das wieder einmal deutlich wahrzunehmen. Es ersparte mir aber danach die Ärger-Gefühle auf die anderen.
Und ermöglichte mir wieder einmal, das Loslassen zu üben.

Und DAS kann ich immer wieder gut gebrauchen.

Dieser Beitrag ist als gedankliche Ergänzung zu meinem ersten Beitrag über Unbekümmertheit entstanden.
Leichtigkeit kann sich nur innerhalb eines schützenden Rahmens und Netzes wirklich gut entfalten.

ein Mann mit Regencape und Hut schaut in die Ferne - über den Nebel- und Regenwolken in den Bergen

2 Gedanken zu „Die Kehrseite der Unbekümmertheit“

  1. Was für großartige Gedanken, liebe Lydia, sie sind bei mir auf sehr viel Resonanz getroffen.
    Vielen Dank dafür. Es tut so gut, sie immer wieder vor Augen/Ohren geführt zu bekommen.
    Achtsamkeit-Leichtigkeit…………………..beide begleiten uns wohl ein Leben lang und das ist gut so, nicht wahr?

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